Robinsons blaues Haus by Augustin Ernst

Robinsons blaues Haus by Augustin Ernst

Autor:Augustin, Ernst [Augustin, Ernst]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2012-06-27T19:45:16+00:00


16

Lieber Freitag.

Stelle dir einen Mann vor, der sich nirgendwo befindet: Das bin ich. Es gibt keine Spuren von ihm, keine Forderungen, keinen Anspruch, keine unbezahlte Rechnung. Es gibt auch kein gebrochenes Heiratsversprechen, nicht einmal die abgeschnittenen Haare beim Friseur gibt es. Der Mann, der sich nirgends befindet, befindet sich überall. In Saarbrücken u n d in Kaiserslautern.

*

In Kaiserslautern in der Einkaufszone betrete ich als blonder langhaariger Mensch das große Untergeschoß des Hertie und komme als Rentner mit Mütze in Saarbrücken wieder heraus. Dazu trage ich diesen besonderen fremdenfeindlichen Ausdruck im Gesicht, und, lieber Freitag, das geht am besten am «Franzosentag» einmal in der Woche, wenn die Franzosen von jenseits der Grenze einkaufen kommen und die Preise hochtreiben. Dann ist es leicht, sich zu verlieren, alles ist austauschbar. Selbst die Fahrkarte ins Nichts, hin und zurück, und die Lulle im Mundwinkel.

Oder London.

In London treffe ich nicht auf dem Victoria-Bahnhof ein, mittags um zwölf, sondern nachts um drei London Bridge Station, wenn kein Mensch auf dem leeren Bahnsteig und draußen kein Taxi zu finden ist, nur heringfarbene Hauswände, die sich in den Pfützen spiegeln. Auf dem langen, erst aufwärts, dann abwärts führenden Weg über die Themse kommt mir höchstens ein Nachtschwärmer mit einem Vampirgebiß entgegen. Das sind diese Plastikdinger mit den langen Eckzähnen, die sie sich aufstecken, ich gehe aber weiter, weil ich weiß, daß ich drüben noch einen 15ner Nachtbus kriege, der dann tatsächlich kommt.

An der West-Indian Dock Road steige ich aus, nun ist es nicht mehr weit. Sie haben hier Glaskästen auf die alten Speicher gestellt, gläserne Luxusvillen hoch oben, die alle so aussehen, als sei kein Mensch zu Hause. Aber täuschen wir uns nicht, hier kostet der Quadratfuß eintausend Pfund, was sage ich, zweitausend Pfund, und sie sind ganz sicherlich zu Hause.

Ein warmer Wind von der Themse her. Einnobles schwarzes Haus, das oben noch Frachtkräne hat. Eine gußeiserne Treppe. Eine Tür, anscheinend aus Sperrholz, wie sie es hier wundervoll dick liefern, aber innen trägt es eine Schicht Stahlnetz, eine englische Spezialität. Und täuschen wir uns nicht, selbst Abstellräume kosten hier eintausend Pfund pro Quadratfuß, selbst Besenkammern ohne Ausblick. Am Morgen bin ich vollkommen verwirrt, ich wache in einem Zwielicht auf, blicke durch das kleine Fenster, vom Bett her, auf eine solide Wand und weiß überhaupt nicht, wo ich mich befinde.

Also versuche ich aufzuwachen. Ich kenne diesen Geruch nach alten Holzbalken und Desinfektion und, oh ja, einer bestimmten Biersorte mit Minze. Sofort gelüstet es mich nach einem englischen Frühstück. Dies ist England! Mit dem wundervoll nussigen Haferflockenbrei, Aal in Aspik, Eiern mit gebratenem Speck und geheimnisvollen Würstchen, in denen sich Brot befindet. Ich will diese dickgeschnittenen schwarzen Scheiben, denen man auch nach zehn Jahren nicht auf die Schliche kommt. Vor allem will ich den schweren schwarzen Tee mit Milch und Zucker. Der hilft. Der hilft auch über den Wetterwechsel, der hier alle halbe Stunde stattfindet.

Dann ist alles geklärt. Als ich ins Freie trete, sind dort soeben zehntausend Banker mit der Hochbahn eingetroffen und strömen jetzt über die Straße, alle in schwarzen Anzügen und blauen Krawatten.



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